[Talk-de] Von Wikipedia lernen

Johannes Huesing johannes at huesing.name
So Apr 25 13:41:40 UTC 2010


Frederik Ramm <frederik at remote.org> [Sun, Apr 25, 2010 at 01:00:33PM CEST]:
[...]
>     ich mache mir Sorgen, wenn ich die Wikipedia betrachte. Trotz allem, 
> was die Wikipedia erreicht hat, ist das kein Projekt mehr, dass ich 
> irgendwie sympathisch finde. 

In Erwartung eines dem Wetter zum Trotze Rekordthreads:

Sowohl bei Wikipedia als auch bei Openstreetmap kommen die
wesentlichsten Beiträge zuerst: Erst Ballungsräume, dann Einöde, erst
Autobahnen, dann Friedhofswege. Ein Vorteil bei beiden gegenüber der
Welt der Freien Software ist, dass es die Beitragenden an etwa
derselben Stelle juckt wie die "Kunden".  Das Argument "was soll ich
mit noch einem Fenstermanager, ich will Steuertricks 2010" zählt hier
viel weniger. Der aktive Mapper möchte auf einer Karte auch erst
einmal die Magistralen fertiggestellt sehen, ähnlich wie Otto
Normalnutzer.

[...]

> 
> Mich erinnert das manchmal an die Kritik, die gern an 
> Hilfsorganisationen geuebt wird: "Von einem Euro, die man an die 
> Organisation X spendet, kommen nur 10 Cent bei den Beduerftigen an!" - 
> bei der Wikipedia scheint mir inzwischen, dass von der insgesamt 
> geleisteten Arbeit 10% in die Verbesserung der Inhalte fliessen, 
> waehrend der ganze Rest irgendeinem Buerokratie-Eiertanz zum Opfer 
> faellt. 

Im Umkehrschluss zu dem, was ich oben geschrieben habe, wird das, was
hinzukommt, immer weniger "wichtig", für alle Beteiligten. Wichtig im
Sinne von wissenswert, aber auch von korrigier- und pflegbar. Wenn ich
in einem 100-Seelen-Dorf in der Altmark einen auffälligen Baum als
Eiche eintrage, obwohl es eine Buche ist, hat diese Fehlinformation
eine gute Chance, 5 Jahre zu überstehen. Mit der inhaltlichen
Ausweitung wird es gleichzeitig immer schwerer, gemeinsame Standards
zu finden. Jemand, der dann aufs Geratewohl einträgt, hat dann
tatsächlich erst 10 Prozent der Arbeit übernommen. In der Diskussion
vor ein paar Tagen war die Meinung deutlich: Besser die 10 Prozent,
die jemand anders zusammenführen und überarbeoten kann, als wäre da
gar kein Originaleintrag. Bei der Wikipedia haben die die Oberhand,
die sagen: Besser wäre der Artikel nie geschrieben worden.

Das finde ich aus folgendem Grunde erstaunlich: Sicher gibt es auch
bei Wikipedia Bots und Mechanismen, die Fakten automatisch abgrasen
und in Listen und wasweißich zusammenfassen. Aber bei OSM ist man viel
mehr darauf angewiesen. Dennoch sind diejenigen, die auf strenge
Standards pochen, hier (noch) viel weniger vertreten als bei
Wikipedia.

Aus einem weiteren Grunde ist dies erstaunlich: Bei einer Wissensbasis
kann man immer weiterschreiben. Bei einer Landkarte sagt, wenn der
letzte Hydrant eingetragen ist, wirklich jeder "nu ist gut". Wer dann
noch weiter vermeintlich Irrelevantes einträgt, sollte sich viel mehr
den Zorn der Exklusionisten zuziehen.

Aber: Eines begünstigt das relativ liberale Klima hier. Die Frage, ob
eine Straße unclassified oder tertiary ist, bringt hier zwar einige in
Wallung, die Wortwahl des Eintrags zu Nagorny-Karabach, Ronald
Barnabas Schill oder Scientology birgt aber realistisch betrachtet
doch etwas mehr Zündstoff.

> Altgediente Wikipedia-Mitarbeiter wenden sich ab; Leute, die 
> Jahre ihres Lebens wirklich mit dem Herzen am Projekt hingen, sind 
> verbittert und enttaeuscht. Es bildet sich eine Clique, ein innerer Kreis.
> 
> Die Presse greift das dann natuerlich gerne auf - zum Beispiel hier ein 
> Zitat aus dem Spiegel vom Januar 
> (http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,689588,00.html):
> 
> "Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es 
> ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch 
> zu ihr beitragen, dass sie ein Produkt von "Schwarm-Intelligenz" sei. 
> Die deutsche Wikipedia hat mehrere hunderttausend angemeldete Nutzer. 
> Aber [...] Ein halbes Prozent aller aktiv gewordenen Nutzer ist für fast 
> zwei Drittel der Editierungen verantwortlich - ein Kreis von nicht 
> einmal 2000 Personen."

Und wie ist das bei uns? Bei dem von mir duch Itoworld angesehenen
Ausschnitt haben auch sechs Leute mehr als die Hälfte der Wege
eingetragen. Wer "nicht mal 2000" als zu wenig für einen "Schwarm"
ansieht, dem wünsche ich mal ein Hornissennest auf den Dachboden :-)
Entscheidend ist ja mehr, dass die 2000 das Werk von 80000 wieder
ungeschehen machen. Das soll nicht sein. Wenn jemand einen Knoten mit
"place_of_warship" einträgt und jemand anders spöttisch denkt "soll
das ein historisches Schlachtfeld sein" und wieder löscht, dann ist
das unanständig. Nicht die Arbeit anderer ungeschehen, sondern daraus
das beste zu machen. Du hast die Orts- ich die Methodenkenntnis, das
sollte einander nicht aufheben, wie es das manchmal in Wikipedia tut,
sondern ergänzen. Wenn ich aber von zwei Knoten, die beide den Bahnhof
Neustadt an der Weinstraße wiedergeben sollen, einen lösche, oder von
100 Knoten, die die Trasse eines Sessellifts bezeichnen sollen, nur
die beiden äußersten übrig lasse, dann traue ich mir das schon zu und
nehme das auf meine Kappe. Da gibt es natürlich eine breite Grauzone.

[...]
> 
> Es ist auch denkbar, dass es ab einer gewissen Projekt-Groesse einfach 
> gar nicht mehr anders geht; eventuell ist "nur 10% der Arbeit kommen dem 
> Projekt zugute" vielleicht wirklich das theoretisch moegliche Maximum. 

Sagen wir mal so: Manchmal sind mit der Feldarbeit erst 10 Prozent
getan. Wenn von den Früchten des Feldes aber nur 10 Prozent
verbleiben, hat jemand was falsch gemacht.

[...]
> 
> Ich stelle mir die Frage, ob unser Projekt OpenStreetMap Gefaehr laeuft, 
> sich aehnlich zu entwickeln, ob wir auch in eine Richtung steuern, bei 
> der wir uns immer mehr von "denen da draussen" abkapseln, mehr und mehr 
> unsere eigenen Regeln aufstellen, Buerokratie aufbauen, Hierarchien 
> erzeugen, schliesslich bezahltes Personal beschaeftigen muessen, weil 
> wir unseren eigenen Freiwilligen nicht mehr ueber den Weg trauen 
> koennen, und und und.
> 

Wir sind in vielen Dingen auf dem richtigen Wege. Eingesetzte Bots
sind meist der breiten Masse antwortpflichtig, jeder kann so vor
seiner Tür schauen, ob jemand anders Unfug macht (Itoworld hat da ein
begnadetes Werkzeug zur Verfügung gestellt), und manchem, der eigene
Renderer oder Router programmiert, sollte man die Korinthenkackerei 
nachsehen.

Den zweiten Punkt finde ich wichtig. Mögen sich zwei in Wikipedia über
Fachdetails streiten, ist das schwer zu entscheiden. Aber ob vorne an
der Ecke ein Briefkasten steht, weiß ich nun mal, ich wohne da! Die
Kehrseite ist natürlich dort, wo die Ortskenntnis durch
Lokalpatriotismus getrübt wird. Derjenige Experte, der Schwerte/Ruhr
als city ausweist, sorgt dafür, dass das schmucke Städtchen mit dem
schiefen Kirchturm auf Osmarender in manchen Auflösungen das gesamte
Ruhrgebiet interpretiert. Leute, dagegen ist Tübingen vs Reutlingen
Kinderkram!

[...]

> Es ist denkbar, dass es einem freien Geist im Projekt eher 
> foerderlich waere, jetzt in einigen Punkten Autoritaet zu wagen, anstatt 
> sich zurueckzuhalten und zu warten, bis die Leute sich den freien Geist 
> selber kaputttrampeln.
> 

Wichtig finde ich, dass um Bots herum Öffentlichkeit hergestellt
wird. Die extreme Forderung wäre "eigene trac-Seite für den Bot oder
abschalten".

Qualitäts-Bots könnten auch dort eingesetzt werden, um Edit-Wars
aufzuspüren. Die könnte dann jemand anders versuchen zu schlichten.
Im Moment sehe ich noch genügend Leute, die bereit sind, auf die eine
oder andere Weise Qualitätskontrolle zu leisten. Das menschliche
Moment ist enorm wichtig.

[...]
> 
> Der "Call for Papers" fuer die State of the Map geht noch bis zum 30. 
> April: http://stateofthemap.org/call-for-papers/

Das ist natürlich ziemlich knapp und verlangt von einem möglichen
Freiwilligen die Fähigkeit, ergebnisoffene Abstracts zu schreiben, und
vom Tagungsteam, sie wohlwollend zu begutachten :-) Ich könnte es
nicht, ich habe zu weng getang und mich zu früh abgewendet, um als
Insider zu gelten.

-- 
Johannes Hüsing               There is something fascinating about science. 
                              One gets such wholesale returns of conjecture 
mailto:johannes at huesing.name  from such a trifling investment of fact.                
http://derwisch.wikidot.com         (Mark Twain, "Life on the Mississippi")




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