[Talk-at] Neighbourhoods in Wien

Friedrich Volkmann bsd at volki.at
Tue Jan 30 20:42:29 UTC 2018


On 30.01.2018 19:05, Stefan Nagy wrote:
> Ich habe die erste Hälfte meines Lebens im Bezirk Mödling verbacht.
> Mödling ist nicht nur irgendeine Ansiedlung mit einem historisch
> überlieferten Namen, sondern ein gegenwärtiger Bezugspunkt. Ich bin in
> Laxenburg aufgewachsen. Und so wie die allermeisten Kinder und
> Jugendlichen im Bezirk bin ich in eine der vielen Sekundarschulen
> Mödlings gegangen. Am Abend sind wir, wie viele andere, in Mödling
> weggegangen.
> 
> Selbst Laxenburg geht problemlos als Bezugspunkt durch. Kinder gehen da
> in die Volks- und vielleicht Musikschule; manche sind bei der
> Pfadfinder-Gruppe, manche gehen zur Freiwilligen Feuerwehr, manche
> gehen mit den Eltern zum Tennis-Klub; viele treffen sich (so
> unterschiedlich ihre Leben sonst auch sind) dann im Sommer im Bad usw.
> usf. Und dann kommt da auch noch der ADEG dazu, bei dem man sich sieht
> (der glaub ich jetzt aber zugesperrt hat); der Bäcker, die Apotheke
> usw. usf.
> 
> Durch solche gemeinsamen Bezugspunkte entsteht Idenität. Man ist
> Laxenburger. Die anderen sind Biedermannsdorfer. Auf einer anderen
> Ebene ist man mit denen eins.

Das war bis zu meiner Jugend auch in Wien so. Man ging zum Greißler 
einkaufen, saß in der Freizeit im Hof der Wohnhausanlage und tratschte mit 
den Nachbarn. Meine Großmutter ging alle Wege zu Fuß. Was weiter weg war, 
lag außerhalb ihres Lebensbereichs. Meine Eltern hatten unterschiedliche 
Dialekte, man konnte am Dialekt erkennen, aus welchem Teil Wiens jemand kam. 
Das ist in den letzten Jahrzehnten alles verloren gegangen, und das ist eine 
Entwicklung, die auch Mödling und seine Nachbargemeinden betrifft:

> Also wenn man Leute aus einem anderen
> Bundesland kennenlernt, werden die Differenzen zum Achauer
> vernachlässigbar; dann ist man Mödlinger. Aber wenns um Wien geht…
> Viele Mödlinger die ich kenne haben ein Wien-Bild, das starke
> Ähnlichkeiten zu dem hat, das ich sehr ähnlich von Steirern kenne
> (trotz der viel kürzeren Luftlinie). Sie haben ihr Bild primär aus den
> Medien – und dann kennen sie noch die Mariahilfer Straße, den Graben
> und die Kärtner Straße. Ihr Zentrum ist aber eben nunmal Mödling, nicht
> Wien.

Heute pendeln viele Mödlinger nach Wien zur Arbeit, und alle Wiener, die es 
sich leisten können, siedeln aus Wien raus ins Umland. Die Durchmischung ist 
hier in vollem Gange, und du bist dafür das beste Beispiel. Du hast deine 
Identität als Laxenburger aufgegeben und im Gegenzug auch zum 
Identitätsverlust der Nikolsdorfer beigetragen.

Das Phänomen gibt es nicht nur im Raum Wien. Im Höhlenkataster wird eine 
Kristallhöhle bei Deutsch Altenburg geführt. Sie wurde in den 40er-Jahren 
durch einen Felssturz verschüttet oder zerstört. Vor 2 Wochen war ich dort 
um herauszufinden, ob von der Höhle noch was übrig ist bzw. ob sich die 
ungefähre Lage auf dem Grundstück noch eruieren lässt; aber auch um die 
Anwohner zu fragen, ob sie was von der Höhle wissen. Die heutige Bewohnerin 
war aber an der Höhle überhaupt nicht interessiert, und ein Nachbar sagte 
nur, er sei erst vor kurzem eingezogen und kenne nichts und niemanden. Ein 
Haus weiter ist ein Geschäftslokal. Dessen betreiber sagte, er führe dieses 
Lokal seit 45 Jahren und es gebe in der Umgebung keine Höhle. Als ich ihm 
erzählte, dass sich 50m von seinem Lokal entfernt eine Höhle mit schönen 
Kristallen befunden hatte, zeigte auch er sich desinteressiert, und ihm war 
anzumerken, dass er sich ein Ende des ohnehin kurzen Gesprächs herbeiwünschte.

Heute identitfiziert man sich nicht mehr mit einem Ort, sondern über 
Interessen, und die sozialen Kontakte finden nicht mehr an der Bassena oder 
im Wirtshaus statt, sondern am Handy und auf Facebook. Auch unsere 
Diskussion jetzt gerade ist nicht eine zwischen zwei Laxenburgern, sondern 
eine zwischen zwei Openstreetmappern, die einander nie gesehen haben.

> glaubst du, die Leute von links und rechts der
> Nikolsdorfer Straße erkennen sich dort als Nikolsdorfer?

Es wär interessant, von Tür zu Tür zu gehen und sie zu fragen. Zumindest ob 
sie was von Nikolsdorf wissen. Bei den jüngeren, zugereisten sind die 
Antworten vorhersehbar, interessant sind die Senioren. Wenn du Lust hast, 
können wir das mal gemeinsam versuchen. Ich wohne auch nur 1½ km entfernt.

> Meine Erfahrung ist eben die, dass man in freien Projekten mit derart
> unterschiedlichen Leuten zu tun hat, dass man immer wieder bemerkt,
> dass man ganz unterschiedliche Weltwahrnehmungen hat und ab und zu – so
> sehr man sich auch bemüht – einfach aneinander vorbeiredet. Da finde
> ich sowas wie die Dritte Meinung eine ganz gute Sache.

Nur ist hängt es dann halt davon ab, wer der Dritte ist. Wenn der zufällig 
ausgewählt wird, ist auch seine Meinung zufällig.

> Ich würde den Projekten nicht vorwerfen, etwas falsch zu machen. Es ist
> eben wirklich beachtlich, wie unterschiedlich man Dinge einschätzen
> kann; wie wenn man auf unterschiedlichen Planeten leben würde.
> Angesichts dessen ist es eher ein Wunder, wie gut nicht autoritär
> geführte Projekte funktionieren.

Ich sehe das pessimistischer, nämlich dass nicht-autoritär geführte Projekte 
sich früher oder später einer autoritären Führung zuneigen, so wie in Animal 
Farm.

>>> Im deutschsprachigen Wiki-Artikel steht "eine geografische oder
>>> soziale Bezugsstruktur innerhalb einer Großstadt (place=city) […]
>>> welche sich räumlich/geografisch und auch oft von der sozialen oder
>>> ethnischen Struktur seiner Bewohner her von anderen Stadtvierteln
>>> abgrenzt".
>>>
>>> Keines dieser Kriterien wird erfüllt.
>>
>> In der englischen Version steht was ganz anderes. Ich verstehe nicht,
>> warum Deutsche und Russen immer wieder abweichende Definitionen
>> aufstellen wollen und damit die internationalen Standards
>> untergraben.
>>
>> Die zitierte Definition klingt schwulstig, ist aber trotzdem
>> unscharf. Was soll man sich unter einer "geografischen oder sozialen
>> Bezugsstruktur" vorstellen? Auch eine Familie oder ein Sport- oder
>> Pensionistenverein sind soziale Bezugsstrukturen. Als Beispiel für
>> eine geografische Bezugsstruktur fallen mir die Alpen ein. Der
>> Hinweis auf "andere Stadtviertel" scheint mir unpassend, denn das
>> Wort "andere" impliziert, dass auch das place=neighbourhood selber
>> ein Stadtviertel ist. Stadtviertel sind aber größere Einheiten, z.B.
>> place=quarter.
> 
> Zu geografischen Bezugspunkten (von "struktur" würde ich da nicht
> sprechen): Ich verbringe immer wieder viel Zeit in Luzern in der
> Schweiz und gibt es Hügel bzw. Berge, zu denen Bezüge in den lokalen
> Identitäten bestehen. Also man wohnt am Gütsch oder am Bramberg usw.
> Die Gegenden unterscheiden sich durchaus soziokulturell und auch in der
> Architektur.

Bei uns war es auch nicht anders, meine Mutter stammte vom Laaerberg. Der 
ist in OSM als Gipfel eingetragen, aber praktisch war er zugleich ein 
Grätzel, in der jeder über jeden alles wusste.

Ob das mit der geografischen Struktur gemeint ist, ist ein anderes Thema, 
und ich finde sowieso diese ganze deutsche Wikiseite verfehlt, weil sie mit 
anderen Seiten in Konflikt steht.

> Soziale Bezüge habe ich oben genannt; eben danach frage ich ja bei
> Nikolsdorf. Es braucht irgendwas, das ein "Wir" herstellt; in aller
> Regel ist das eine Vielfalt von Bezugspunkten, daher macht da auch das
> Gerede von einer Bezugsstruktur Sinn.
Auch da bleibt es Spekulation, ob wirklich das gemeint ist. Das weiß nur 
derjenige, der die deutsche Seite geschrieben hat; und warum er sich was 
eigenes ausgedacht hat statt die englischsprachige Originalseite sinngetreu 
zu übersetzen, kann auch nur er beantworten. Ich schätze, über 
https://www.openstreetmap.org/message/new/kjon kann man ihn befragen. Ich 
werde das aber nicht machen, weil mir offen gesagt egal ist, warum er es 
gemacht hat. Wenn das Geschirr zerbrochen ist, macht die Frage nach dem 
Warum es auch nicht mehr ganz. Man braucht dann keine Fragen, sondern 
jemanden, der es in Ordnung bringt.

Solang wir von unterschiedlichen Wiki-Definitionen ausgehen, ist es 
jedenfalls kein Wunder, dass uns eine Einigung schwer fällt.

-- 
Friedrich K. Volkmann       http://www.volki.at/
Adr.: Davidgasse 76-80/14/10, 1100 Wien, Austria



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