[Talk-de] Von Wikipedia lernen

Frederik Ramm frederik at remote.org
So Apr 25 11:00:33 UTC 2010


Hallo,

    ich mache mir Sorgen, wenn ich die Wikipedia betrachte. Trotz allem, 
was die Wikipedia erreicht hat, ist das kein Projekt mehr, dass ich 
irgendwie sympathisch finde. Das Projekt macht auf mich den Eindruck, 
als ob es langsam an Buerokratie zu Grunde geht. Die Dynamik und der 
freie Geist, den das Projekt frueher hatte, werden erstickt in Regeln, 
Rechten, Hierarchien.

Mich erinnert das manchmal an die Kritik, die gern an 
Hilfsorganisationen geuebt wird: "Von einem Euro, die man an die 
Organisation X spendet, kommen nur 10 Cent bei den Beduerftigen an!" - 
bei der Wikipedia scheint mir inzwischen, dass von der insgesamt 
geleisteten Arbeit 10% in die Verbesserung der Inhalte fliessen, 
waehrend der ganze Rest irgendeinem Buerokratie-Eiertanz zum Opfer 
faellt. Altgediente Wikipedia-Mitarbeiter wenden sich ab; Leute, die 
Jahre ihres Lebens wirklich mit dem Herzen am Projekt hingen, sind 
verbittert und enttaeuscht. Es bildet sich eine Clique, ein innerer Kreis.

Die Presse greift das dann natuerlich gerne auf - zum Beispiel hier ein 
Zitat aus dem Spiegel vom Januar 
(http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,689588,00.html):

"Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es 
ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch 
zu ihr beitragen, dass sie ein Produkt von "Schwarm-Intelligenz" sei. 
Die deutsche Wikipedia hat mehrere hunderttausend angemeldete Nutzer. 
Aber [...] Ein halbes Prozent aller aktiv gewordenen Nutzer ist für fast 
zwei Drittel der Editierungen verantwortlich - ein Kreis von nicht 
einmal 2000 Personen."

Ich will dabei niemandem irgendeine Schuld zuweisen; ich weiss wohl, 
dass es "die Wikipedia" ebensowenig gibt wie "die Deutschen", und vieles 
von dem, was wir heute bei der Wikipedia beobachten, ist ja nicht das 
Resultat einer bewussten Entscheidung oder Weichenstellung, sondern es 
ergab sich halt so mit der Zeit.

Es ist auch denkbar, dass es ab einer gewissen Projekt-Groesse einfach 
gar nicht mehr anders geht; eventuell ist "nur 10% der Arbeit kommen dem 
Projekt zugute" vielleicht wirklich das theoretisch moegliche Maximum. 
Fuer mich steht fest, dass bei der Wikipedia einiges falsch laeuft, aber 
es ist denkbar, dass es so, wie es laeuft, die "am wenigsten falsche" 
Moeglichkeit ist, etwas zu erreichen.


Ich stelle mir die Frage, ob unser Projekt OpenStreetMap Gefaehr laeuft, 
sich aehnlich zu entwickeln, ob wir auch in eine Richtung steuern, bei 
der wir uns immer mehr von "denen da draussen" abkapseln, mehr und mehr 
unsere eigenen Regeln aufstellen, Buerokratie aufbauen, Hierarchien 
erzeugen, schliesslich bezahltes Personal beschaeftigen muessen, weil 
wir unseren eigenen Freiwilligen nicht mehr ueber den Weg trauen 
koennen, und und und.

Aus Sorge vor verkrusteten Strukturen bin ich ja immer gleich einer der 
ersten, der dagegen argumentiert, wenn mal wieder jemand mit 
irgendwelchen Demokratie-Ideen fuer OpenStreetMap ankommt. Meiner 
Ansicht nach hat ein fehlgeleitetes Verstaendnis von Demokratie zu der 
Misere bei der Wikipedia beigetragen - sowas wie die "Relevanzkriterien" 
ist automatisches Produkt des verzweifelten Versuchs, irgendetwas 
"gerecht" zu machen. Viele nehmen an, dass es automatisch gerecht ist, 
wenn wenigstens klare Regeln existieren, nach denen entschieden wird.

Auf der anderen Seite ist es denkbar, dass das in der Wikipedia genau so 
gelaufen ist und dass die Strukturen, die wir jetzt sehen, eben die 
sind, die sich von selbst entwickeln, wenn ein Projekt sich weigert, das 
aktiv zu tun. Es ist denkbar, dass es einem freien Geist im Projekt eher 
foerderlich waere, jetzt in einigen Punkten Autoritaet zu wagen, anstatt 
sich zurueckzuhalten und zu warten, bis die Leute sich den freien Geist 
selber kaputttrampeln.


Die Wikipedia scheint aus welchen Gruenden auch immer ein 
Vergroesserungsglas fuer schlechte Eigenschaften von Menschen zu sein - 
Arroganz, Angeberei, Machtversessenheit, Ueberheblichkeit, die Freude, 
sich ueber einen Neuling zu erheben, weil man selbst ja schon seit einer 
Woche dabei ist, und so weiter. Vermutlich ist das nicht die Mehrheit 
der Leute, und vermutlich tun selbst viele von denen, die als Ekel 
rueberkommen, trotzdem noch gute Arbeit, aber dennoch ist das ein 
ziemliches PR-Desaster.


Lassen sich eventuell bei genauerer Analyse der Wikipedia-Geschichte 
bestimmte Dinge identifizieren, wo man heute sagt: Dies und das haette 
man eventuell anders gemacht, wenn man damals gewusst haette, dass sich 
das so entwickeln wuerde? An welchen Stellen laeuft OSM Gefahr, 
dieselben Probleme zu bekommen wie die Wikipedia, und an welchen Stellen 
sind wir unterschiedlich genug, um dagegen immun zu sein? Koennen wir 
aus den Fehlern (oder Maengeln) von Wikipedia etwas lernen und einige 
Probleme dadurch vielleicht von vorn herein umschiffen?


Ich weiss, dass einige von Euch einen soliden Wikipedia-Background haben 
(ganz im Gegensatz zu mir). Hat vielleicht jemand von Euch Lust, auf der 
State of the Map-Konferenz einen Vortrag in dieser Richtung zu halten? 
Es muss ja nicht ganz so negativ sein, wie ich es hier geschildert habe, 
ein Insider wuerde da vermutlich mehr Nuancen sehen, und natuerlich kann 
man nicht nur aus Fehlern lernen, sondern auch Erfolge kopieren. 
Grundsaetzlich ist aber dieses "aus der Entwicklung der Wikipedia 
lernen" eine Chance, die wir nicht vertun sollten, denn es gibt nicht 
viele andere Projekte, die aehnlich wie wir gestrickt sind.

Der "Call for Papers" fuer die State of the Map geht noch bis zum 30. 
April: http://stateofthemap.org/call-for-papers/

Bye
Frederik

-- 
Frederik Ramm  ##  eMail frederik at remote.org  ##  N49°00'09" E008°23'33"




Mehr Informationen über die Mailingliste Talk-de